A wie Alter
Klüger altern – Die sieben goldenen Regeln
Erste Regel: Lassen Sie sich keine Regeln vorschreiben! Noch nie gab es so viele Besserwisser wie heute. Was wir nicht alles tun oder lassen müssen, um zufriedener, schöner, gesünder zu altern! Vergessen Sie es! Kein Seepferdchen für Senioren, kein Sprachkurs in Alzheim, kein Tantra für Tattrige. Das wahre Glück des Alters: Sie müssen gar nichts mehr müssen. Altwerden heilt vom Jugendwahn. Also tun Sie nichts, was Sie nicht tun wollen. Niemand kann Sie zu gar nichts mehr zwingen. Verweigern Sie den Wettbewerb. Leben Sie sorgloser! „Ich werde nicht alt“, wird sich mancher in den siebziger Jahren gedacht haben, als die Erde auf dem Kopf stand und selbst seriöse Propheten wahrsagten, dass wir in naher Zukunft ohne Öl im sauren Regen stehen werden, weil der kalte Krieg unweigerlich im nuklearen Winter enden wird. Keine der düsteren Vorhersagen wurde wahr. Sicher, die Welt steht immer noch Kopf, dennoch versprechen uns die Statistiker, dass wir alle deutlich älter werden, als wir es je hoffen konnten. Wir hier in diesem Land haben sehr viel Glück in dieser Zeit, an diesem Ort zu leben. Noch nie in der Menschheitsgeschichte war für so viele Menschen die Chance so groß, gesund zu altern - wenn das Schicksal uns von Krankheiten verschont. Da hilft es vorzubeugen. Aber dafür braucht es keine dicken Ratgeber. Die wichtigsten Empfehlungen der Altersforschung lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Gehen Sie regelmäßig zum Arzt. Essen Sie, was Sie wollen, nur nicht zu viel. Trinken Sie, was Sie wollen, nur nicht zu viel. Verzichten Sie aufs Rauchen und aufs Nörgeln. Gehen Sie jeden Tag eine halbe Stunde spazieren, und schon sind Ihnen mehr Lebensjahre geschenkt, als Sie je für möglich hielten. Die entscheidende Frage: Was fangen Sie mit den vielen gewonnenen Jahren an? Glaubt man den Jungen, ist das Alter eine sehr düstere Zeit, in der sich seniorengesteuerte Roboterrollatoren um die letzten Pflegeplätze balgen. Lassen Sie sich keine Angst machen, da ist viel Neid im Spiel. Altern wird viel zu häufig als Problem begriffen, aber nur jeder Siebte hierzulande ist von Armut bedroht, nur jeder Zehnte der über Neunzigjährigen wird dement. Die Armut, die alle angeht, ist die seelische Armut. Die schlechte Nachricht: Viel zu viele Menschen fühlen sich im Alter einsam. Die gute Nachricht: Sie haben immer noch sich selbst.
Zweite Regel: Lernen Sie sich erst mal richtig kennen. Dafür hatten die meisten in ihrem Leben noch gar keine Zeit. Sie werden älter, als Sie denken, aber das bedeutet noch lange nicht, dass Sie jung bleiben. Wenn manche Alte jünger wirken als viele Junge, dann hat das nichts mit der Zahl ihrer Lebensjahre zu tun. Weder die Seele noch die Vernunft sind jung oder alt. Alt wird, wer stur wird. Sturheit ist eine Verholzungserscheinung des Hirns. Das Altern beginnt immer zuerst im Kopf. Sie wollen wissen, wie alt Sie wirklich sind? Machen Sie den kleinen Senilitätscheck! Beantworten Sie bitte die folgenden drei Fragen wahrheitsgemäß: Sie reden zu viel und hören ungern zu? Sie wissen alles besser? Sie lachen nur noch über andere und nicht mehr über sich selbst? Sie haben drei Mal mit „ja“ geantwortet? Dann sind Sie alt. Kein Problem, machen Sie den Test einfach noch mal. Keiner von uns ist so klug, als dass er nicht ab und an in senile Denkfallen tappt. Deswegen halten Sie ein wenig Abstand zu sich selbst: Sie werden älter, als Sie denken – wenn Sie denken. Vor allem vermeiden Sie es, einen falschen Maßstab anzulegen: Ältere sollten sich an Älteren orientieren, nicht an Jüngeren. Das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit macht schlechte Laune und lässt vorzeitig altern. Wenn Sie selbst ungern denken, wählen Sie sich die richtigen Vorbilder! Statt frühmorgens Aerobic mit Jane Fonda trinken Sie lieber nachmittags Tee mit Miss Marple! Verzichten Sie auf den glutenfreien Sojashake mit Brigitte Bardot und laden Sie sich lieber bei Miss Sophie zum „Dinner for Two“ ein. Was Sie von den beiden alten Damen lernen können? In Würde zu altern. Gerade Männer neigen dazu, mit Sneakers ins Seniorenheim zu stürmen, wo sie dann stundenlang „Forever Young“ trällern, weil ihnen keine andere Liedzeile mehr einfällt. Machen Sie sich nicht lächerlich - es sei denn, Sie haben Ihren Spaß daran.
Dritte Regel: Vertrauen Sie Ihren Kindern. Aber vertrauen Sie ihnen niemals Ihr Geld an. Sie kennen die Geschichte von König Lear? Ein Mann, drei Töchter, ein Königreich und ein massives Erbfolgeproblem: Die Töchter, die ihn umschmeicheln, belohnt er mit seinem Erbe; die Tochter, die ihn wirklich liebt, verstößt er. Die Folgen sind bekannt: Er wird wahnsinnig, und die Welt versinkt im Chaos. Warum stellt sich König Lear so dumm an? Er hat Angst vor der Einsamkeit. Also glaubt er, sich Liebe kaufen zu müssen. Gekaufte Liebe ist immer noch besser als gar keine, denkt er. Eine Narrheit, wie ihm sein Hofnarr klarmacht: „Du hättest nicht alt werden sollen, eh Du klug geworden wärst.“ Wer sich nicht mit dem Altern auseinandersetzt, läuft
Gefahr, sich zum Narren zu machen. Weil man sich von Schmeicheleien betrügen lässt. Weil man sich und andere mit seinen Problemen wahlweise mit seinen gewesenen Erfolgen langweilt. Beharren Sie nicht auf dem, was war. Es gibt so vieles im Leben eines Menschen, was andere nicht interessiert, niemals interessieren wird. Namen einstiger Berühmtheiten, die er oder sie kannte. Stationen einer Karriere, die niemand mehr abgehen will. Ruhm, der längst vergangen ist. All die falschen Freunde, die spurlos untertauchten, als es nichts mehr zu holen gab. Was soll‘s? Im Alter zählen nicht die gewesenen Tage, davon gibt es genug. Im Alter zählt nur eins: Die vielen guten Tage, die noch vor Ihnen liegen. Die sollten Sie genießen können. Verlieren Sie sich nicht in der Vergangenheit. Tauschen Sie so viel Besitz gegen Leben, wie Sie nur können.
Vierte Regel: Altern will gelernt sein. Ihr wichtigstes Organ dabei: Der Kopf. Es ist wie im Judo: Sie müssen die Kraft des Gegners aufnehmen und zur eigenen Stärke machen. Sie werden langsamer – weniger Hektik. Sie hören schlechter – weniger Geschwätz. Sie werden vergesslicher, umso weniger Erinnerungen bedrücken sie. Sie können nicht mehr reisen, dann lesen Sie Reisebücher. Sie können nicht mehr tanzen, schenken Sie Ihrem Enkel einen Tanzkurs. Jedes Gebrechen können Sie ein wenig zum Guten wenden. „Aber doch nicht schlimme Krankheiten!“, werden viele einwenden. Manchmal schon - lesen Sie bei Thomas Mann im „Zauberberg“ nach, wie geistig heilsam fiebrige Infekte sein können! Wann immer Sie glauben, es geht Ihnen schlecht, greifen Sie zu einem Buch. Bücher geben Ihnen die Kraft, Ihr eigenes Leben in einem ganz neuen Licht zu sehen. Das ist keine Zauberei. Fragen Sie Harry Potter! Sie wollen kein Buch lesen? Dann lesen Sie Ihr Horoskop, aber nur, wenn es gute Tage verspricht. Glaube versetzt Berge, Aberglaube auch. Da müssen Sie nicht wählerisch sein. Glauben Sie an das, was Ihnen guttut. Warum nicht auch an den lieben Gott? Miss Marple hatte noch im hohen Alter die Kraft, selbst schwierigste Kriminalfälle zu lösen, obwohl oder vielleicht gerade, weil sie von allen Jungen unterschätzt wurde. Auf die Gretchenfrage nach dem Grund ihrer unerschütterlichen Zuversicht, stets das Richtige zu tun, antwortete sie gewohnt hintersinnig: „Der liebe Gott hat nie an mir gezweifelt, insofern wäre es unhöflich an ihm zu zweifeln, nicht wahr?“ Klingt naiv? Bleiben Sie naiv! Wenn Sie an nichts mehr glauben, wenn Sie über nichts mehr staunen, sind Sie alt. Die einzige wahre Formel ewiger Jugend ist die von Albert Einstein: „Alt werden – Kind bleiben“.
Fünfte Regel: Sie sollten sich beizeiten ein Happy End für Ihr Leben ausdenken. Warum? Weil es eintreten könnte. Was unweigerlich eintritt, wenn Sie nicht an ein Happy End in Ihrem Leben glauben?! Sie geben auf, oder klein bei, oder verabschieden sich in eine Traumwelt oder werden verabschiedet, weil der Schatten der Mutlosigkeit auf Ihnen liegt. „Ich freue mich siebzig zu werden, denn die Alternative wäre ja, nicht siebzig zu werden.“ Keine Schönrednerei. Niemand wird von Verlusten verschont. Auch Sie nicht. Deswegen müssen wir beizeiten umdenken lernen. Mit das Traurigste, was uns im Leben geschehen kann, ist, dass es uns nur auf eine Rolle festlegt und alle anderen Träume zunichtemacht. Nichts trostloser, als mit neunzig noch den Playboy oder die Diva oder den Rockstar geben zu müssen. Armut ist: Lebenslang nur eine Rolle spielen zu dürfen. Altern ist die Aufforderung, sich selbst neu zu erfinden. Klammern Sie sich nicht an Ihr Ego! Üben Sie sich in Gedankenspielen. Je immobiler die Gelenke, desto mobiler sollten die Gedanken sein. Ihre Träume und Wünsche müssen nicht alle wahr werden, aber sie sollten doch zumindest geträumt worden sein. Jeder darf sein Leben einmal als Märchen erzählen, als Komödie, als Tragödie, als Liebesdrama. Durchspielen Sie alles in Gedanken, das befreit auf ungefährliche Art vom Erwartungsdruck, sich im wirklichen Leben allzu viel abzuverlangen. Phantasieren Sie sich ihr Leben als die Schöne oder das Biest, als Dr. Jekyll oder Mr. Hyde. Könnte sein, dass die kriminelle Vita die aufregendere ist. Aber ich bin sicher, irgendwann denken Sie sich nein, viel zu nervenaufreibend das Leben als Serienmörder, und Sie stellen fest: Die Rückkehr zur Normalität ist eigentlich der schönste Spaziergang im Leben. Die Füße wollen nicht mehr so, wie Sie wollen? Sie können nur noch mühsam außer Haus gehen? Es gibt keine Freunde mehr, die zu Ihnen kommen könnten? Wenn es um Sie herum immer einsamer wird, laden Sie eben all Ihre Freunde in Gedanken zu sich nach Hause ein. Machen Sie es wie Miss Sophie. Nicht der Butler ist der Held im „Dinner for One“, der ist die komische Figur. Miss Sophie ist es, die alle Fäden in der Hand hält. Sie ist die Regisseurin ihres eigenen Stücks. Die Frage des glücklichen Alterns ist die Frage danach, wie Sie bis zuletzt die Oberhand behalten, auch wenn alle Sie im Stich lassen. Miss Sophie hat die Antwort gegeben: Wer zuletzt lacht, lebt am längsten.
Sechste Regel: Es ist nie zu spät, sich zu verlieben. Die Liebe ist das schönste Gedankenspiel. Das können Sie auch mit siebzig, mit achtzig, mit neunzig noch spielen. Lassen Sie sich da von Ihren Kindern oder Enkeln nicht altklug reinreden. Für die ist Liebe selbstverständlich. Für den, der altert, ist sie ein Wunder. Alles scheint grau, alles scheint sinnlos, da tritt der Mann, die Frau in ihr Leben, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen. Das Schicksal kann sehr kitschig sein. Keine Angst vor Kitsch! Das ist der Goldrand Ihres Lebensbildes. Immer besser, wenn Sie zu zweit darauf lächeln. Das Schlimmste im Alter, darüber herrscht seltene Einigkeit, ist die Einsamkeit. Wir können noch so lange in den Spiegel blicken, es wird uns nicht wirklich froh machen. Wir brauchen ein Gegenüber, um uns wirklich sehen zu können. Also gehen Sie tanzen, geben Sie Kontaktanzeigen auf, twittern oder tindern Sie, aber bitte altersgerecht, oder sprechen Sie einfach wildfremde Menschen an – was kann Ihnen schon passieren? Ich lasse mich lieber belächeln als beerdigen.
Siebte Regel: Schreiben Sie Ihren eigenen Nachruf. Bevor andere sich über Sie das Maul zerreißen, oder Sie gar totschweigen wollen, schreiben Sie auf, was Sie bewegt und beglückt hat im Leben. Machen Sie es kurz, drei Seiten reichen, aber seien Sie ehrlich! Einmal im Leben dürfen wir ehrlich sein. Begleichen Sie alle offenen Rechnungen. Das verschafft Luft. Wer bin ich, wer war ich, wer wollte ich sein. Was bleibt noch zu tun, um die Fragen zufriedenstellend beantworten zu können? Erzählen Sie Ihre eigene Geschichte, damit Sie anderen in Erinnerung bleibt, vor allem aber auch, damit Sie sich selbst erinnern. Die Zeit zerfließt so schnell zwischen den Händen. Die Menschen erinnern sich an immer weniger. Aber kein Mensch der Welt hat es verdient, vergessen zu werden. Also machen Sie sich bemerkbar. Denn mit das Beste, was Sie im Leben hinterlassen können, ist ein Lächeln im Gesicht derer, die an Sie denken.
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Zuerst erschienen in: Gesund im Alter. Tagesspiegel Berlin 2019
A wie Absagen
B wie Blei, Franz
F wie Fliege
Die Fliege, die Kunst und der Tod. Zur Geschichte eines humoristischen Motivs. Essay
Immer noch studiere / Ich am kleinsten Tiere: Welche himmelhohen Rätsel es gibt.
Ringelnatz
Die Stubenfliege, musca domestica, ist ein gewöhnliches Geschöpf. Ihre Unzählbarkeit weist sie aus als billigste Fabrikware der Natur, ihre aufdringliche Wesensart macht sie dem Gutmütigsten verhaßt und selbst ihr Äußeres gibt keinen Entschuldigungsgrund für ihre Existenz. Dem hat auch die Namensgebung mit abschätziger Beiläufigkeit Rechnung getragen: Die Ableitung von 'fliegen' liegt auf der Hand.
Seit den Tagen des Sündenfalls lebt dieses zur Plage ersonnene Geschöpf mit dem Mensch, seit diesen Tagen des verlorenen Paradieses verachtet und verfolgt er sie: dem gesunden Menschenverstand ist sie einfach nur lästig, der Feinsinnige zeigt sich pikiert ob ihrer unreinlichen Lebensart und allein der Abergläubische schenkt ihr jene Aufmerksamkeit, die sein furchtsamer Sinn für alles und jeden erübrigt. Zwar bekam die Fliege nie den dämonischen Zauber mythischer Fabelwesen zugesprochen, dazu war ihr Dasein denn doch zu alltäglich, aber was ihr an archaischer Aura fehlte, machte sie wett durch Penetranz und Überzahl. Schon die Griechen waren ihrer so überdrüssig, daß eigens ein Gott geschaffen wurde, sie zu vertreiben: Myiagros, Heros und Fliegenschreck, dem ein Stier als Voropfer gebracht wurde. Späterhin, als er sich - wie zu erwarten - seiner Aufgabe nicht gewachsen zeigte, mußte Zeus selbst dieses Amt übernehmen. Auch Apollo versuchte sich; Herkules, für dergleichen Kärrnerarbeit wie geschaffen, soll es der Legende nach immerhin gelungen sein, den eigenen Haupttempel fliegenfrei zu halten. Aber allen Mühen zum Trotz, die Hilflosigkeit der antiken Götter war ihren Gläubigen nur allzu offensichtlich, ein Umstand, der zwar nicht unmittelbar zu ihrem Sturz, wohl aber zu einer immer allgemeiner werdenden Skepsis gegenüber ihren apotropäischen Fähigkeiten geführt hat. Der Notwendigkeit eines größeren, allmächtigeren Gottes konnte fortan nicht mehr so leicht widersprochen werden, so wünschenswert eine pluralistische Götterwelt für aufgeklärtere Geister auch immer gewesen sein mag. Aber die Bedrohung war eine zu existentielle, denn daß sich hinter diesem unscheinbaren Lästigen Gefährlicheres verbirgt, ahnte man schon zu Zeiten des Aristoteles. Es war allgemein bekannt, daß Fliegen im Unreinen entstehen, nur zum Unreinen sich hingezogen fühlen und folglich Unreines bewirken, dementsprechend gestaltete sich das religiöse Erscheinungsbild der widrigen Kräfte: der Herr der Verwesung trat als Aasfliege auf, die Krankheitsdämonen und Totengeister nahmen Fliegengestalt an. Ihre unheilskündende, unheilsbeglaubigende Unzahl war gleichermaßen gefürchtet wie ihr subversives Schmarotzertum als Einzelwesen. Jedermann wußte, daß eine Fliege, die sich, auf welchem Wege auch immer, im Gehirn einnistete, schwere Geistesstörungen, wenn nicht gar Wahnsinn auslöste. Ein Mythologem, das bildlich-diskret erklärt, warum so viele Herrscher, die naturgemäß von unzähligen Parasiten umlagert wurden, dem Irrsinn verfielen, sei es, weil sie sich durch servile Einflüsterungen in den Größenwahn treiben ließen oder in angeborener Unvernunft den Einflüsterungen schlechter Ratgeber erlagen und angesichts der unheilvollen Folgen in Trübsinn versanken. Sueton berichtet von Domitian, daß er sich zu Beginn seiner Regierung täglich für Stunden zurückzuziehen pflegte, um nichts anderes zu tun, als Fliegen zu fangen und mit einem spitzen Griffel aufzuspießen - eine ausgesprochen philantropische Spielart caesarischer Melancholie.
Die Fliege trat so schon früh in Konkurrenz zur Grille, beide wurden zu Sinnbildern des Grübelns, der im Kopf umherschwirrenden Gedanken, des Denkens schlechthin, das im Volksglauben schon immer als eigentliche Ursache von Hypochondrie und Schwermut beargwöhnt wurde: Il a des mouches dans la cervelle. Einer, dessen Geist in Verwirrung geraten ist, sei es im Rausch der Phantasie, des Weins oder der Melancholie ist Opfer der Fliege; ein cervelle émouquée, ein von trüben Gedanken freies Hirn dagegen ist der Stolz all derer, die sich durch intellektuelle Enthaltsamkeit und emotionale Askese von solchen Heimsuchungen freizuhalten wissen.
Dieser metaphorischen Nähe zur Macht und zur Melancholie wegen hatten die Dichter von Beginn an ein gänzlich anderes Verhältnis zur Fliege als der gemeine Mann. Zwar weiß auch Homer um ihre Lästigkeit: „... dicht, wie der Fliegen unzählbar wimmelnde Scharen / Rastlos durch das Gehege des ländlichen Hirten umherziehn", aber er schildert ihr Treiben in allzu heiteren Versen, als daß man die Bedrohung wirklich ernst nehmen könnte: „... gleich wie die Fliegen / Sumsen im Meierhof um die milcherfülleten Eimer / Im anmutigen Lenz, wann Milch von den Butten herabtrieft".
Selbst die in diesen heroischen Zeiten nur allzu bekannte, weil häufig zu beobachtende leichenschänderische Tätigkeit der kleinsten aller Aasgeier entbehrt in der Voß'schen Übersetzung nicht eines frivolen Reizes: sie, deren "Geschlecht raubgierig erschlagene Männer verzehret", "hineingeschmiegt in die erzgeschlagenen Wunden, / Drinnen Gewürm erzeugen und ganz entstellten den Leichnam" XIX, 25 ff.
Die eigentümliche Fliegen-Sympathie Homers spricht sich noch weit unverhohlener aus, wenn er - unter Beihilfe der kuhäugigen Göttin Athene - den kampfesmüden Sinn des Menelaos poetisch befeuert, auf daß er die Leiche des Patroklos vom Schlachtfeld rette:
„Diese stärkt' ihm die Schultern mit Kraft und die strebenden Knie, / Und in das Herz ihm gab sie der Flieg unerschrockene Kühnheit, / Welche, wie oft sie immer vom menschlichen Leibe gescheucht wird, / Doch anhaltend ihn sticht, nach Menschenblute sich sehnend: / So ausharrender Trotz erfüllt' ihm das finstere Herz nun." XVII, 568 ff.
Vergebens, denn ihn ereilt das gleiche Schicksal wie sein Wappentier - er stirbt einen schnellen Tod von Feindeshand. Das zumindest erhofft man sich von der Metaphorik, aber der Vergleich trügt: Menelaos rettet die Leiche des Achillesgeliebten von der Wallstatt, übersteht ruhmreich alle Schlachten und Scharmützel und kehrt wohlbehalten heim, um später dank reuigen Mitleids der Götter ins Elysion entrückt zu werden.
Die stille Sympathie Homers für die kämpferischen Verwandten der Fliege blieb Jahrhunderte unbeachtet, bis Lukian - in betonter Opposition gegen die Wertungen des gesunden Menschenverstandes - eigens eine Lobrede zu ihren Ehren verfaßte, die ein anderer, ihm ebenbürtiger Spötter, ihrer Grazie wegen rühmte und übersetzte. Was Wieland an diesem Enkomion gefallen hat, ist seine rhetorische Eleganz. Was ihn hätte irritieren müssen, ist, daß die Apotheose allein zu satirischen Zwecken geschieht. Auch wenn Lukian die Feinheit und Weichheit der Fliegenflügel feinstem indianischen Musselin vergleicht und ihren Farbenglanz rühmt, auch wenn er ihren behend gaukelnden Flug dem tölpischen Auf und Ab anderer Insekten vorzieht und ihr anmutiges Geflüster preist, das sich so wohltuend von dem Gedröhne der Schnaken und dem dumpfen Gesumse der Bienen unterscheidet, so geschieht das alles doch nur aus Koketterie mit der eigenen Sprachkraft. Er rühmt ihre Friedfertigkeit, er stellt sie dem Menschen gleich in ihrer putzigen Art sich der Vorderfüße als Hände zu bedienen, er preist ihren Verstand und mit Homer ihre Tapferkeit. Selbst mythologischen Aberglauben spart er nicht aus, um das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen und die Unsterblichkeit ihrer Seele zu beteuern, aber die Ironie ist aufdringlich genug, um jedermann auffällig werden zu lassen, daß es ihm nicht ernst ist damit. Lukian will zu seinem und des Lesers Vergnügen brillieren mit einer rhetorischen Kunst, die selbst das niedrigste aller Geschöpfe für einen Moment den Göttern gleichzustellen vermag, um es im nächsten wieder dem Vergessen anheimzugeben. Aber diese satirische Arroganz, die Lukian gewohnheitsmäßig seinem poetischem Personal gegenüber zur Schau stellt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß in diesem Fall der erzielte Effekt in keinem Verhältnis zu den Mühen des Aufwands steht. Götter und Hochstapler zu blamieren, die Eitelkeit der Regierenden und die Torheit der Alltagsmenschen bloßzustellen, bringt satirische Rendite, aber warum sollte ein notorischer Spötter sich eines Geschöpfs annehmen, das ohnehin schon der Verachtung aller preisgegeben ist – nur aus Trotz? Oder gar nur zum Zweck, die in Mode gekommenen Preislieder zu parodieren?
Lukians Anteilnahme an der Fliege bleibt trotz aller artistischen Vorwände suspekt, und auch das Lob Wielands ist allzu euphorisch, als daß es dem Leser erspart bliebe, beiden ein durchaus eigennütziges Interesse an diesem Hymnus zu unterstellen.
Schon ihr Singen, so legte es die Metaphorik nahe, weist sie als Kunstschaffende aus. Ihre Lebensweise ist die der sophistischen Boheme, sie "baut sich kein eigentliches Nest und hat keinen festen Wohnsitz", sondern schweift ziellos umher, und wer, außer dem Künstler, versteht es wie sie, sich in "ewiger Muße und gänzlicher Unabhängigkeit" von fremden Fleiße zu nähren. Lukian treibt, melancholisch leise, Spott mit sich und seinesgleichen. Er, der ewig Stellungssuchende, der unterwürfig, aber vergeblich Kaiser Verus auf sich aufmerksam zu machen suchte, der lebenslang um die Gunst seiner Patrone buhlen mußte und erst im Alter, gnadenhalber, das einträgliche Amt eines Kanzleivorstehers beim Statthalter von Ägypten zugesprochen bekam, dichtete sich in humoristischer Hybris den Herrscherglanz des Erwählten an, wiewohl er insgeheim nur allzugut wußte, daß ein Dichter in den Augen der Macht kaum mehr als jeder andere Domestik zählt. Fliege und Poet, für jene Umschwärmten, die sie aus Ruhmsucht oder ennui alimentierten, schon immer einander wesensgleich, bildeten fortan im Selbstverständnis der Literaten eine metaphorische Schicksalsgemeinschaft.
Der gesamte Essay:
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G wie Golf
H wie Humor
I wie Ibiza
L wie Lebensfragen
Die zehn wichtigsten Fragen des Lebens – in aller Kürze beantwortet
I. Selbst denken oder denken lassen?
Wann haben Sie das letzte Mal in Ruhe über sich selbst und Ihr Leben nachgedacht? Vermutlich erst nach der Katastrophe. Als der Partner schon weg war, die Mutter, der Vater gerade gestorben, die Schulfreunde längst in einer anderen Galaxis. Wir denken ungern - wir lassen lieber andere für uns denken. Der Hirnmuskel wird schlaff. Nehmen Sie es sportlich und fangen Sie langsam an. Zwanzig Minuten am Tag, das reicht! Gehen Sie spazieren, das lenkt Ihren Körper ab und sorgt für ausreichend Sauerstoff. Lassen Sie die Alltagsprobleme zu Hause. Wir trainieren unser Hirn für die falschen Aufgaben. Nicht „Wie soll ich funktionieren?“ ist die Frage der Fragen“, sondern: „Wie soll ich leben?“
II. Der Sinn des Lebens?
Ich schreibe Nachrufe über Menschen, die gestorben sind. Keine berühmten Menschen, Helden des Alltags. Warum Helden? Weil sie gelernt haben, ihr Leben zu meistern, ohne groß von sich reden zu machen. Von diesen Menschen habe ich gelernt, was der Sinn des Lebens ist: da sein. Das stärkste Gefühl der Angehörigen, wenn sie von den Verstorbenen erzählen, ist nicht Trauer, sondern Dankbarkeit, dass es diesen einen Menschen gegeben hat. Wann waren Sie das letzte Mal dankbar? Vergessen Sie nicht: Der Tod hat es manchmal sehr eilig. Morgen können Sie diese Frage vielleicht schon gar nicht mehr stellen. Hoffentlich begreifen Sie also heute schon, wie sinnlos es ist, dem Leben mehr abzuverlangen als das Glück, da zu sein.
III. Bin ich glücklich?
Sie sind unglücklich? Zu Recht. Sie verlangen zu viel: von sich und anderen. Woher ich das weiß? Wenn Sie es nicht tun würden, wären Sie nicht unglücklich. So einfach ist das nicht, werden Sie einwenden. Und Sie haben Recht.
Sie sind glücklich? Zu Unrecht. Sie haben auf nichts ein Anrecht. Das wird uns erst dann bewusst, wenn wir das Leben anderer Menschen teilen, denen es schlechter geht als uns. Sie wollen ihr Leben nicht mit anderen teilen? Dann werden Sie nie erfahren, ob Sie ein glücklicher Mensch waren. Denn das eigene Glück ist meist im toten Winkel unserer Wahrnehmung.
IV. Bin ich schön?
Sie gehören zu jenen Menschen, die sich immer hässlich finden? Sie glauben, dass andere immer besser aussehen, dass schöne Menschen immer glücklicher sind und glückliche Menschen immer schön. Unsinn. Wer bewundert wird von vielen, ist selten glücklich. Fragen Sie Romy Schneider, James Dean, Marylin Monroe, Lady Gaga oder eine der vielen namenlosen Schönheitsköniginnen der vergangenen Jahre. Schön ist nicht, wer von vielen geliebt wird. Schön ist, wer liebt. Sie erkennen es sofort an dem Leuchten in den Augen. Und jetzt blicken Sie bitte noch mal in den Spiegel! Wann leuchteten Ihre Augen das letzte Mal?
V. Was ist wahr, was ist falsch?
Was liegt im Einkaufswagen Ihres Nachbarn an der Kasse? Aha, interessiert Sie nicht. Was sollte ein Analytiker oder ein Arzt oder ein Ratgeberschreiber für ein Interesse an Ihnen haben? Vor allem das eine: Kassieren. Bevor Sie anderen vertrauen – vertrauen Sie lieber ihren Eltern oder Ihren Freunden - die sollten es ehrlich mit Ihnen meinen. Sie haben da so Ihre Zweifel? Dann bleibt nur noch ein Mensch, dem Sie vertrauen können. Bevor Sie also das nächste Mal zu einem Ratgeber greifen: Denken Sie selbst.
VI. Was soll ich tun?
Tun Sie erst mal nichts. Die meisten Leute tun so viel, dass sie vor lauter Tun gar nicht zum Nachdenken darüber kommen, warum sie es eigentlich tun. Sie tun und tun, und irgendwann kurz vor ihrem Tod, stellen sie die Frage nach dem Warum. Warum tun Sie das, was Sie gerade tun? Sie müssen die Frage nicht beantworten, aber Sie müssen sie stellen, jeden Tag neu. Sonst sehen Sie irgendwann sehr alt aus.
VII. Für wen soll ich es tun?
Bitte nicht für andere! Alle Menschen, die dazu neigen, sich für andere aufzuopfern, fordern es irgendwann zurück - in Form von Bewunderung, Ehrfurcht, Mitleid oder Unterwerfung. Was immer Sie tun, tun Sie es für sich selbst. Denn wer mit sich selbst im Reinen ist, wird meist auch für seine Mitmenschen der angenehmere Mensch sein.
VIII. Gibt es Gott?
Stellen Sie die Frage niemals einem Philosophen oder Theologen. Warum nicht? Die reden zu viel. Stellen Sie die Frage lieber einem Reisenden. Noch besser: Gehen Sie selbst auf Reisen. Dann werden Sie sehen, wo überall auf dieser Welt Gott fehlt und wo überall auf dieser Welt ein Gott verehrt wird. Die Welt beherbergt sehr viele Götter. Gibt es einen von ihnen wirklich? Gibt es den einen Gott? Möglicherweise. Eine bessere Antwort kann Ihnen auch der klügste Mensch auf dieser Welt nicht geben.
IX. Wer ist mein Schutzengel?
Wenn jeder dem anderen ein wenig zur Seite stehen würde, könnten wir alle die Frage mit einem einfachen Fingerzeig beantworten.
X. Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Sicher. Nur werden Sie vermutlich kaum erfahren, wer an Ihrem Grab weinen oder lachen wird. Wichtiger ist die Frage: Hatten Sie ein Leben vor dem Tod?
Zuerst erschienen in: Salon. Das Magazin für Gastlichkeit, Tischkultur und Lebensart. Winter 2015/16
Mehr dazu in: Die zehn wichtigsten Fragen des Lebens. Köln 2014
L wie Leser
Der Ewige Zweite
Zur Typologie des Arno-Schmidt-Lesers im Speziellen - und der Leser im Allgemeinen
I. Der grüblerische Leser (meist männlich)
Eine Feststellung, die er so nicht akzeptieren wird: Der ewige Zweite! Nicht dass es ihn persönlich kränkte, der grüblerische Leser ist nicht eitel, denn er empfindet durchaus das Behagliche seiner Bescheidenheit und möchte sich nie an der Stelle des Autors sehen – aber das Kategorische des Titels empört ihn.
Denn – wer hat dieses Buch in die Hand genommen, wer hat es aufgeblättert, wer den schmalen Rücken gegen den hohen Preis verrechnet, und sich dann dennoch entschieden zu kaufen, aus einer unbestimmten, aber keineswegs unausgebildeten Neugier heraus. Keine Kritikerempfehlung, kein Rat von Freunden, und schon gar kein Geschenk – die infamste Herrschaftsform des Zufalls, so zumindest empfindet er es an misanthropischen Tagen.
Der grüblerische Leser fürchtet Buchgeschenke wie andere einen zu feuchten Händedruck, er wählt grundsätzlich selbst, und er tut das am liebsten in Buchhandlungen, wo er vor Empfehlungen der Verkäufer sicher sein kann. Er ist auch nicht mehr gewillt, sofern er denn, selten genug, selbst in die Rolle des Schenkenden kommt, nach einem bestimmten Autor oder Titel zu fragen, weil er den irrlichternden Blick der Verkäufer nicht erträgt: »Novalis mit v oder mit w?«
Für sich selbst kauft er nur noch sehr selten ein Buch. Neuerscheinungen, insofern sie sich wichtigtuerisch als »Zu-Gelesen-Habende« präsentieren, langweilen ihn. Eine Zeitlang hat er Listen der schnell wieder zu vergessenden Autoren geführt, »Heldenfriedhof der Eintagesfliegen« betitelt. Der grüblerische Leser hat einen sehr eigenbrötlerischen Humor.
Der Buchhandel schätzt ihn als Leser nicht sonderlich, denn drei, vier neue Bücher im Jahr genügen ihm, und nicht selten erwirbt er diese Neuanschaffungen antiquarisch. Ein, zwei Torheiten neuere Autoren anbelangend, gestattet er sich – mehr aus Prinzip, weniger aus Neigung. Ansonsten vertraut der grüblerische Leser darauf, dass ihn das Schicksal nicht von ungefähr mit den richtigen Büchern zusammenführt, denn in anderer Hinsicht ist es ihm viel schuldig geblieben. Von Menschen wurde er enttäuscht, von Büchern so gut wie nie. »Nun, wer weiß, vielleicht ist dieses Buch die Ausnahme?«
Er ruckt etwas unruhig im Sessel. An der Wand eine gute Reproduktion des Gartens der Lüste von Hieronymus Bosch. Ansonsten nur zwei mannshohe Regale aus massivem Holz. Dreihundert Bücher genügen ihm. Da hält er es mit Luther: »Nicht viel lesen, sondern gut Ding viel und oft lesen macht fromm und klug …«
»Der ewige Zweite!« Eine etwas hemdsärmlige Attacke auf ein unentbehrliches Gegenüber. Der Autor hat das Buch geschrieben, sicher, tautologische Hausmannskost, der Urheber ist der Urheber, ein Zugeständnis, das leichtfällt, aber in Gedanken an wen hat er es geschrieben, der Herr Autor! Nicht dass er mich im Sinn gehabt haben muss, der grüblerischer Leser lächelt ein wenig, denn auch wenn er sich nicht verkannt fühlt, so weiß er doch, dass er außerhalb der Welt ist.
Nicht in seinem Beruf, da macht ihm, dem ausgewiesenen Fachmann, niemand etwas vor, aber als Büchermensch, der durch einen leicht altväterlichen Habitus auffällt, und durch eine zuweilen unentwirrbare Syntax, da wird er ein wenig belächelt, von seinen Kollegen wie von der Familie. Da stehst du doch mit beiden Beinen im Leben – was zieht dich ständig zu den Büchern?! Passt schon, antwortet er dann karg, und erspart sich jedes weitere Gespräch, weil er weiß, dass der Zweck alltäglicher Gespräche nur darin liegt, dem anderen Gelegenheit zu geben, sich schnellstmöglich selbst zu äußern.
An Büchern kann man nicht vorbeireden, denn gute Bücher sprechen einen sofort persönlich an. Als Freund, oder eben – und da nun gilt es die Beweggründe dieses Autors auszuforschen, von dem der grüblerische Leser bislang noch nie ein Buch in der Hand hatte – als Kontrahent. In diesem Fall wohl als Kontrahent schlechthin, denn der gesamten Leserschaft wurde gewissermaßen der Fehdehandschuh hingeworfen. Was das gute Recht eines jeden Autors ist, denn der grüblerische Leser weiß sehr wohl, und vermerkt es zuweilen nicht ohne Eitelkeit, daß seinesgleichen vom Aussterben bedroht ist, und stattdessen vermehrt Leserlemuren herumgeistern, deren babylonische Gedanken- und Sprachverwirrung die Stimme der Vernunft leiser und leiser werden lässt.
Hm, schnauft er auf, altmodisch daran zu glauben, an die Stimme der Vernunft, das weiß ich wohl, man kommt sich ein wenig vor wie ein Hutträger inmitten einer Sportveranstaltung, aber der grüblerische Leser hängt dem Glauben an, dass Geschmacksurteile in literarischen Dingen nur dann zu begründen sind, wenn die Vernunft das Wort führt. Nicht die Lynchjustiz modischer Launen!
Eine gewisse Herablassung dem Leser gegenüber ist also gestattet, und die Verletzlichkeit des Autors, der sein altes Klagelied gegen die Megafone der Moderne anstimmen muss, gilt es zu respektieren, andererseits – wer zwingt ihn dazu, ein Buch auf den Markt zu bringen, wenn nicht seine eigene Eitelkeit. Die meisten Autoren sind nicht weniger unerzogen als ihre Leser. Sie stellen sich gern in den Vordergrund, sind unhöflich, indezent, sehen sich selbst als den Nabel der Welt, überschätzen ihr Anliegen … und, in den Augen des grüblerischen Lesers der denkbar schlimmste Vorwurf schlechthin – sie vergessen oft genug ihre Herkunft.
Denn – hat nicht jeder Autor selbst als Leser angefangen, ist es nicht gerade unumstößliche Voraussetzung seiner Karriere als Autor, dass er zunächst Leser war, und – umso besser er als Leser war, um so gewiefter ist er als Autor?
Was nicht zwangsläufig zutreffen muss. Gute Leser haben oft dumme Bücher geschrieben. Und umgekehrt, schlechte Leser gute Bücher. Und war er selbst, der Autor, als Leser wiederum nicht allzu oft Opfer, als dass er selbst so ohne weiteres zum Täter gegen die Leser werden wollte, oder ist genau das sein Anliegen: Rache zu nehmen für die gestohlene Zeit und nun seinerseits Zeit zu stehlen, als ließe sich das Konto so wieder füllen.
Zeitvertreib! Der Autor vertreibt dem Leser die Zeit, und der Leser?! Tut seinesgleichen!! Denn nur dank ihm weiß der Autor um seine Pflichten. Was hätte Thomas Mann den lieben langen Tag sonst getan? Die Venedig-Reise vorgezogen? Oder ins Unendliche verlängert?!
Natürlich würde der grüblerische Leser nie so weit gehen und behaupten wollen, dass der Autor an sich zur Gänze eine Erfindung des Lesers sei, aber dass manche Autoren geradezu Wert darauf legen, sich im Leben und Schreiben nach Leserwünschen zu modellieren, sei es aus monetären Erwägungen oder Eitelkeit, stärkt doch sehr den Verdacht, dass es sich bei Autor und Leser um Duellanten auf Augenhöhe handelt, Duellanten um den Text.
Dieser Ausdruck gefällt dem grüblerischen Leser, und er nimmt sich vor, diese Formulierung später aufzuschreiben, was er in der Regel nicht tut, denn er scheut vor der Verbindlichkeit zurück, was sein eigenes Denken anbelangt.
II. Der Tag-für-Tag-Leser (männlich wie weiblich)
Der Misanthrop unter den Lesern, denn er macht dem Autor insgeheim zum Vorwurf, dass er sich für ihn aufopfere – ohne je rechten Lohn dafür zu erhalten. Art und Ausprägung des Vorwurfs reichen von anhänglicher Liebe bis hin zu abgrundtiefer Verachtung, oft in unheilvoller Mischung.
Die Lebensläufe aller Tag-für-Tag-Leser konvergieren in einem Punkt, jener einsamen Stunde, als sie sich selbst der Kunst für unwürdig befanden und schworen, fortan der Sache an sich, soll heißen der Literatur zu dienen. Leider halten die wenigsten diesen Schwur. Das Gelübde gilt in der Regel solange, bis der Tag-für-Tag-Leser eine berufliche Position erreicht hat, in der sich Bescheidenheit nicht mehr rechnet. Und so mutieren die meisten Tag-für-Tag-Leser irgendwann unweigerlich zu Autoren, nicht zuletzt, weil sie es insgeheim ohnehin schon immer wussten: dass sie es eigentlich viel, viel besser können. Die Unterart:
Der Eunuch, auch gemeiner, zuweilen hundsgemeiner Rezensent genannt. Jene, seit jeher von allen Autoren verachtete Erscheinung des Kritikers, der zum Feind des Buches wird – aus welchem Gründen auch immer, meist ist es schlicht Neid auf das Talent des Autors.
Denn kaum ist ein Buch erschienen, wird es unweigerlich zum Objekt der Missgunst jener, die nicht zeugungsfähig sind. Die Verschämten unter den Eunuchen erwehren sich der Einsicht in die Mängel ihrer Existenz durch hymnisches Einstimmen, sie liebdienern sich dem Autor an, so als könnten sie Arm in Arm mit ihm den Olymp ersteigen. Das mag der Autor nicht, denn er ist von Hause aus einsam und kennt keine Freunde. Der Autor wartet. Er wartet auf die gehässigen Kritiker. Ohne sie wäre er sich seiner Unzeitgemäßheit nicht mehr sicher, denn nichts ist schlimmer als das Lob derer, die für den Tag schreiben.
Wenn keine gehässigen Kritiken erscheinen, ist der Grund meist der, dass eine Verschwörung gegen den Autor vorliegt. Denkt der unerfahrene Autor. Tatsächlich aber, das weiß der gereifte Schriftsteller sehr wohl, gehört es zum Prinzip der krittelnden Gehässigkeit, ihn hinzuhalten. Ihn warten zu lassen. Ihn spüren zu machen, dass es auf ihn gar nicht ankommt.
Während der Autor auf die schlechte Kritik wartet, übergeht er die guten Kritiken achtlos, denn er kennt seine Vorzüge ja selbst am besten, stattdessen befindet er sich in einem inneren Dialog mit seinem Gegner.
Er ist ja nicht unkritisch als Autor, jeder Künstler hat Schwächen, und er ist neugierig zu erfahren, wer sie erkennt und namhaft macht. Und warum. Die Gründe sind häufig privater Art. Es ist wie im wirklichen Leben: Nicht selten kennen sich Opfer und Täter persönlich.
Die einfache Begründung, dass ein Kritiker ein Buch schlecht findet, weil es schlecht ist, und dass das auch sein gutes Recht ist, ob er es jetzt zureichend begründen kann oder nicht, ist für sein Gegenüber, den Autor, eine Unzumutbarkeit. Zumindest für jene, die sich ihrer selbst nicht sicher sind. Denn der Autor will nun mal von allen geliebt werden, ausnahmslos. Warum? Weil er sich selbst nicht wirklich liebt für das, was er tut – denn Schreiben heißt eingestehen, dass man fürs Leben nicht wirklich taugt.
Im Grunde ist der Eunuch also ein rein funktionales Phänomen, weil letztlich nur ein Repräsentant des auktorialen Selbsthasses und daher lebend so gut wie nie anzutreffen.
III. Der Sammler (meist männlich)
Der Sammler sammelt. Er liest nicht. Er sammelt. Deswegen heißt er Sammler.
Vermutlich sammelt er, weil er nicht gern liest. Natürlich gibt es Ausnahmen, werden viele Sammler einwenden, in jedem Fall gibt es Ausnahmen, Namen, die gehandelt werden, von Autoren, die große Sammler waren, allen voran natürlich – in unserem Fall – Arno Schmidt. Aber Schmidt war kein Sammler, er war Autor. Und natürlich Leser. Aber Autoren lesen anders, sie dichten mit, verwerfen im gleichen Atemzug, bleiben ihm Gespräch mit dem Text. Sie sind immer und zuerst Autor. Sammler hingegen reden nicht mit den Texten, sie sammeln sie.
Das Zwanghafte in ihrem Tun rührt her aus frühesten Tagen. Sie sind Jäger und Sammler in eins. Der Gegenstand ihres Tuns ist da unwichtig, sofern die Leidenschaft selbst ihn als würdiges Objekt des Zugriffs kenntlich macht. Und Objekt kann alles sein.
Briefmarkensammler umgibt der gleiche überirdische Ernst wie Bibliophile; Schmetterlingsjäger stürmen mit verwandtem Furor die Flure wie Handschriftensammler die ihren, geeint im nekrophilen Verlangen, lieber etwas Totes fest in den Händen zu halten als etwas Lebendigem mit Andacht zu begegnen.
Verbrächte der Sammler seine Zeit nicht mit Sammeln, er verbrächte sie auf der Couch seines Analytikers, der seinen Akkumulationstick eingedenk der sammelsurischen Leidenschaften Sigmund Freuds zwar als nicht weiter therapiewürdig einstufen würde, zugleich aber angesichts des obsessiven Habitus seines Patienten aus dem nervösen Hüsteln nicht mehr herauskäme. Sammler sind Jäger, folglich per se zum Töten bereit.
Ein wenig zu streng dieser Tatvorwurf, zumal unbewiesen, interveniert der Außenstehende, und fragt klug nach: Vieles gäbe es doch gar nicht ohne rührige Sammler, die das Gesammelte für die Nachwelt bewahren?!
Einspruch - sie bewahren es für sich.
Warum badet Dagobert Duck so gern in seinen Dukaten? Weil es ihm Spaß macht. Warum reden Sammler so gern von ihren Sammlungen im hohen Ton der Exaltiertheit – weil im Gestischen des Zeigens ein zweiter Zugriff erfolgt: »Meins.«
Diese nackte Gier zu bemänteln, eilen sie rhetorisch von Phrase zu Phrase und beschwören den tieferen Zusammenhalt des hier Zusammengetragenen. So als führte vom Materiellen ein Notausgang zum Metaphysischen. Sicher wird man dem stolzen Besitzer es glauben, wenn er verlauten lässt, dass das Bewohnen einer Villa vertrauter mit dem Geist des Erbauers macht, so die umständliche Einleitung, und das Streicheln eines Buches pneumatische Schauer der Erkenntnis auszulösen vermag, und das Zählen des aktuellen Buchbestandes eine Ahnung der Unendlichkeit in sich birgt, und der Endlichkeit allen Wollens – und was der Plattitüden mehr sind, um sich der Scham über den eigenen, mäßig kultivierten Exhibitionismus zu erwehren. Denn stets peinigt den Sammler das schlechte Gewissen, denn er selbst ist sich ja durchaus der niederen Beweggründe anderer Sammler bewusst, prangert sie zuweilen auch an: Man zeigt, woran es fehlt, und stets fehlen wird, Bildung nämlich, als etwas Erworbenes, nicht Gekauftes. Das Buch selbst gilt ihm nichts, nur der Besitz.
Besitz heißt Vorenthalten. Anderen etwas vorenthalten. Notfalls mit Gewalt. Die Stufenfolge der Sammlerparanoia reicht vom Kindskopf wider Willen, der anderen die fehlenden Abziehbildchen stiehlt, sofern er sie nicht tauschen kann, bis hin zum Serienmörder.
Es finden sich auf den Zwischenstufen der geschmäcklerische Leser, auch wohltemperierte Leser genannt, der schlürft und verkostet und sein Geistesleben als kulinarische Veranstaltung inszeniert. Man kann ihn sich leicht mit Handschuhen lesend vorstellen, oder mit schmaler Goldbrille, mit der er stolz auf seine lange Ahnenreihe zurückblickt, seine Ahnen im Geiste, die Kalligraphen, denen die Schönheit des Papiers, der Zug der Feder, das Schreibgerät selbst wohlige Schauer verursachen. Er ist ein Feinschmecker, und wie alle Feinschmecker nicht wirklich leidenschaftlich, oder gar intelligent, aber sehr konturiert in seinem Wollen und Tun. Er selbst nennt es Stil.
Der ärgste Feind in der Bibliothek des Verkosters ist der Autor ohne Verstand und mit proletarischer Herkunft, der zunächst zur Lesung im Salon – kleiner Kreis – gebeten wurde, dann zum Staunen in die Bibliothek, der dort rüde schnauft, und Bücher zu frei und vor allem günstig handelbaren Brechstangen im Kampf gegen die Mauer der allgegenwärtigen Ignoranz deklariert.
»Ein Wahnsinniger!« würde er denken, aber nicht wagen es auszusprechen. Ohnehin hat der Geschmäckler bereits inständig die Einladung bereut, zu der ihn seine Frau nötigte, und die in feinstes Saffianleder gebundene Ausgabe von Senecas Lebensweisheiten an sein Herz pressend, würde er den Gast höflich hinausbegleiten, zu den anderen Gästen, ohne dass dem die Vertreibung aus dem Tempel als solche gewärtig werden würde, denn das barsch Verweisende »Hinaus!« bleibt geflüstert.
Der sammelnde Leser ist oft sehr erfolgreich als Anwalt, Arzt oder Apotheker, aber selten als Leser – was ihm wiederum sehr das Sammeln erleichtert. Insofern er selten liest, sehr selten mit einem Buch zu Ende kommt oder ihm gar verfällt, insofern er also immer neu Anlauf nimmt, kann er auch immer mehr Bücher anschaffen, nicht zuletzt in der Hoffnung irgendwann auf das Buch zu stoßen, das er sich wirklich ganz und gar zu eigen machen kann.
Unterarten des additiven Sammlers gibt es zuhauf: Er mag Erstausgaben sammeln, die Bücher nur des einen Verlages, des einen Autors, der einen Druckwerkstatt; er mag sich um die Vollständigkeit aller Werke zu einem Autor, über eine Epoche, aus einem Jahr mühen – was auch immer er als Kriterium seines Eifers festlegt – es ist ein Äußerliches. Die Scheu vor Inhalten, die ihn so angestrengt das Attributive suchen lässt, rührt her von der tiefsitzenden Angst, sich selbst zu begegnen. Angenommen, ein jedes gute Buch sei wirklich der Spiegel der Seele, dann greift der Sammler nahezu wahllos von Spiegel zu Spiegel, in der Angst sein wahres Gesicht zu sehen.
Der Sammler mordet den Geist der Buchstaben, indem er ihn an das Buch selbst fesselt, um seiner ganz und gar habhaft zu werden. Er gleicht Aladins kleinem Bruder, der die Wunderlampe vor sich herträgt – als sei es wirklich nur eine Lampe.
Glücklich allerdings wurde nie ein Sammler durchs Sammeln, das ist der Fluch des Magister Tinius: Jede Sammlung geht irgendwann auf in einem anonymen Bestand. Günstigstenfalls in einer Bibliothek, als Geschenk, der Nachlass eines großen Gelehrten, das Exlibris, kaum eine Gedenkminute wird dafür erübrigt.
Der Flohmarkt, Armenfriedhof einer Sammlung. Das Antiquariat, Umschlagplatz für die Hehlerware pietätloser Erben. Der Sammler sammelt. Und das mit großer, unziemlicher Leidenschaft. Er büßt dafür mit dem Verlust seiner Sammlung, irgendwann. Also warum schlecht darüber reden? Weil er nicht liest.
IV. Der empfindsame Leser (geschlechtslos)
Der empfindsame Leser findet sich in allen Intelligenzklassen, Jahrgangsstufen und Geschlechterrollen. Historisch betrachtet ist sein berühmtester Ahnherr zweifelsfrei Don Quixote, den er selbst allerdings nicht sehr schätzt – Humor ist für ihn die kalte Dusche im warmen Mai seiner Frühlingsgefühle, so seine intuitive Metaphorik. Ebenso misstraut er Ironie oder Sentimentalität, letzteres ist ihm als Gefühl nicht ganz fremd, aber zu unrein, weil gemischt aus Herzens- und Verstandeselementen.
Geschichtenerzähler sollten nie lügen, so sein beherzter Aphorismus, denn das Leben selbst lügt doch auch nicht, oder? Tut es das etwa? Der empfindsame Leser kann Fragen von entwaffnender Naivität stellen – ohne dass ihm die Naivität als solche auffallen würde, denn anderen Formen des Denkens – so sie je in ihm angelegt waren – hat er sich erfolgreich entwöhnt. Weil: Jede Form von Komplexität ist im Focus des Herzens verdächtig, denn Gefühle sind nicht komplex, oder? Sind sie?
Bei Lesungen sitzt der empfindsame Leser gern in der ersten Reihe, denn er legt Wert darauf, eine sehr persönliche Beziehung zum Autor aufzubauen. So er ihn denn in sein Herz geschlossen hat, schreibt er ihm gelegentlich – nicht zu oft, denn er weiß wohl, der Autor hat Wichtigeres zu tun. So denn eine Einladung erteilt wird, nimmt er sie gern an, sucht ihn auf, notiert seine Worte, die des Autors wie die eigenen, und versucht sich, zunächst nur sehr privat, in der Niederschrift dieser ungewöhnlichen Begegnung zweier außerordentlicher Menschen. Denn als solcher muss er sich nun vorkommen – nachdem der Autor ihn erhört, zumindest ihm zugehört hat.
Natürlich ist der empfindsame Leser strategisch untreu, weil er nicht nur diesem einen Autor zur Last fallen will, sondern vielen zugeneigt ist, zugeneigt sein muss.
Oft sammelt der empfindsame Leser als Ausdruck seiner literarischen Libido Autografen, so nennt er Autogramme, nicht um sich an ihrem Wert zu erfreuen, den sie zweifellos einmal haben werden, denn er vertraut ganz und gar seinem literarischen Werturteil, nein, er liebt Handschriften um ihrer selbst willen. Er traut ihnen Magisches zu, wissend um die Abkunft des Dichters vom Druiden, der Zauberworte, magische Formeln dergleichen hütete, bis der neuzeitliche Dichter sie ihm aus der Hand nahm und in Verse schmiedete, so die Erklärung des empfindsamen Lesers, wenn er auf die Macht der Poesie angesprochen wird, was zu seinem Leidwesen selten geschieht.
V. Der Suchtleser (meist weiblich)
Auch Schling- oder Serien- oder Nichtleser genannt. Glaubt von sich, er sei der wahre Leser, zumindest der wahre Freund der Literatur. Tatsächlich aber ist er der Bemitleidenswerteste unter allen Lesern. Messbar bemitleidenswert. Den Rekord hält ein Amerikaner: Er kann 1200 Worte in der Minute lesen. Einen Band Dickens in 13 Minuten. »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« leicht an einem Nachmittag.
Wie jede Suchterkrankung deformiert die Lesesucht die Wahrnehmung, trübt das Wissen, vernebelt das Hirn, und führt, so sie denn richtig gehandhabt wird, auf eine vermeintlich höhere evolutionäre Stufe, nämlich die der magischen Existenz – was aber nur wenigen vergönnt ist.
Aus medizinischer Sicht gilt der Rat, dass eine Flasche Wein in der Woche, dosiert Glas um Glas, zum Erhalt des leiblichen Wohls genügt; aber genau das ist die Schreckensvorstellung eines jeden Süchtigen, Mäßigung.
Wer je in einem Kinderzimmer, ob bürgerlich überbehütet in Einzelhaft oder sozial unterversorgt in einer Mehrbettzelle, wer je in einem Kinderzimmer die Leiden des an seine Körperlichkeit Gebundenen, soll heißen an das Hier und Jetzt Gefesselten erfahren hat, der weiß, warum Lucky Luke seinen Namen trägt und Harry Potter zaubern kann.
Wir alle wollen aus unserer Haut hinaus, ohne genau zu wissen warum. Wenn uns also jemand an der Hand nimmt, dem wir glauben trauen zu können, dann gehen wir mit, einfach so, denn jeder Abschied bringt uns dem Zuhause näher, aus dem wir fliehen, sobald es erreicht ist. Aber wie hält man es mit der Waffenbrüderschaft in zivilen Zeiten?
Wer mit Old Shatterhand ritt, hatte ein klares Ziel vor Augen, das war Winnetou, oder Old Surehand, oder die Beseitigung aller Bösen unter schonendem Gebrauch der Schusswaffe. Wenn so ein Ritt beendet war, dann zählte man bis drei, und begann einen neuen. An Heiraten und Kinderkriegen war gar nicht zu denken, zu schlecht die Welt, zu weit die Wege zu den Bösewichten, zu drängend der Wunsch unterwegs zu sein.
Wer mit Huckleberry Finn den Fluss des Lebens hinab fuhr, der hatte vielleicht kein klares Ziel, aber er wusste zumindest, dass er weg wollte von Tom Sawyer, Tante Polly und Klein-St.-Petersburg.
Wer an Bord von Nemos Nautilus ging, hatte 20000 Meilen vor sich und mit dem alten Leben abgeschlossen; nicht anders, wer sich Don Quijote zugesellte, Lederstrumpf, Jim Hawkins oder den drei Musketieren. Mütter heulen, wenn Männer gehen. Make my day.
Die Großmannssucht des Kindes verliert sich bei manchen, wächst sich bei anderen zum napoleonischen Komplex aus, den sie, im günstigsten Fall, in einem Kinderbuch ausleben. Die Inseln der Kindheit – aber das verzeichnen nur wenige Karten – sind zugehörig einem großen Archipel der Träume, der wandelbaren Gestalten und Charakterkostüme, die der stürmische Puck uns anträgt, auf dass wir unsere Leidenschaften in anderen erproben.
Wir lernen hassen, geduldig hassen, mit dem Grafen von Monte Christo; wir lernen die Lust an der Einsamkeit und den Überdruss an ihr mit Robinson Crusoe; die Wandelbarkeit unseres Selbst mit Gulliver; die unwandelbare Treue mit Sancho Pansa, die unerfüllte Liebe mit Gustav Gans.
Sie alle sind Bestandteil unseres Egos geworden, selbst wenn wir sie verleugnen. Denn jeder Leser wird einmal erwachsen. Fast jeder. Der reine Suchtleser bleibt Suchtleser. Er kann – gleich Schauspielern – sein Sehnen nach anderen Egos nicht wirklich unter Kontrolle bringen.
VI. Der altkluge Leser (meist männlich)
Der altkluge Leser im Allgemeinen will, und das ist das Paradox seiner Existenz, immer das letzte Wort haben. Den Text des Autors begreift er stets als Frage, als eine an ihn ganz persönlich gerichtete Frage, denn er weiß, der Autor ist sich seiner selbst wie auch seines Tuns nicht sicher, sonst würde er keine Bücher schreiben.
Der altkluge Leser ist leicht zu verwechseln mit dem langweiligen Leser. Beide werden sie nie erfahren, was sie gelesen haben, weil es sie einfach nicht interessiert. Es kümmert sie auch nicht. Nicht wirklich. Was den altklugen Leser einzig interessiert ist: Ob er recht behält.
Der altkluge Leser in seiner beamteten Form nennt sich Professor und wurde als solcher schon geboren. Zumindest ist es schwer vorstellbar, dass er je ein Buch nur zum Vergnügen las, dafür wurden sie ja auch nicht geschrieben.
Der professorale Leser liebt den Autor, durchaus, aber für gewöhnlich liebt er ihn zu Tode. Er bahrt ihn auf in kostbaren Ausgaben, erstickt ihn mit Fußnoten, zergliedert und zerfasert ihn in Einzelstränge, die er neu zusammen windet, wissenschaftlich, ohne dass klar würde, wozu sein Tun gut ist.
Kein Buch über einen Autor ist besser als das Buch des Autors selbst, insofern sind sie alle überflüssig. Da würde der professorale Leser vehement widersprechen, zum einen, weil er nun mal damit sein Auskommen verdient, zum anderen, weil es ja auch den unverständigen Leser gibt – unverständig aus welchen Gründen auch immer –, und diesem unverständigen oder naiven Leser muss der professorale Leser den Autor erklären, weil er es ja nun mal nicht selbst kann, so die triumphale Schlusspointe seiner Argumentation.
Was der professorale Leser unterschlägt, ist, dass er sich selbst nur sehr kompliziert, wenn nicht gar unverständlich ausdrücken kann, womit der naive Leser bzw. der Leseanfänger vor der Wahl steht, das um Verständnis heischende Werk des Autors zu lesen oder das unverständliche des professoralen Deuters – und unweigerlich die Flucht ergreift. Aber weit führt sein Weg nicht, denn der professorale Leser lockt ihn mit Forschungsaufträgen, Stipendien und Stellenversprechen zurück, auf dass er sich eingliedere in den Betrieb und das ernste Studieren beginne, an dessen Ende dann … ein unverständliches Buch steht.
Millionen Bücher über Homer, Shakespeare, Goethe, Kafka et al. und keins davon fiel je in die Hände eines begeisterten Lesers. (Natürlich gibt es Ausnahmen, aber über die wird im Milieu des professoralen Lesers nicht gern gesprochen, denn es gilt die Niveauvereinbarung dergestalt, dass kein wissenschaftliches Buch über Literatur selbst Literatur sein darf, weil sich dann der Daseinszweck der professoralen Leser erübrigen würde, und seine Verbeamtung, denn es bestünde kein Anlass mehr zur staatlichen Alimentierung seines Tuns.)
Der durchschnittliche professorale Leser lebt lebenslang von einem, höchstens zwei Autoren, die er wieder und wieder exhumiert, was ein mühseliges Unterfangen ist, das im Laufe der Jahre aber immer routinierter vonstattengeht.
Der Autor X wird zunächst als Person durchleuchtet, sein Leben protokolliert, seine Leidenschaften – je nach der aktuellen psychologischen Mode – seziert, dann notdürftig wieder zusammengeflickt und in seiner Biografie bestattet. Seine Texte werden mehr oder minder sorgfältig ediert, kommentiert und in einer Werksausgabe zusammengefasst, die je nach Akquisetalent des Herausgebers eine sehr ansehnliche oder sehr schäbige sein kann und so oder so der regelmäßigen Erneuerung bedarf.
Ruhm und Bedeutung des Autors werden gemehrt, indem die Epoche in seinem Werk gespiegelt wird, oder in seiner Person, oder seiner Sippe, was eine Reihe von Veröffentlichungen nach sich zieht, die dann, an den runden Geburtstagen des professoralen Lesers, zu Festschriften zusammengefasst werden. Motive seines Schreibens, Eigentümlichkeiten seines Stils werden evolutionsgeschichtlich verfolgt, in längeren Referaten und kürzeren Aufsätzen gewürdigt, und am Ende des rührigen Tuns steht dann ein Klassiker, zu definieren als ein Autor, der seinen wissenschaftlichen Leser am Leben erhält.
In schöner Regelmäßigkeit treffen sich die professoralen Leser zu Symposien und Kongressen, und üben sich gemeinsam in der Kunst der Leichenfledderei. Nicht selten wird auf solchen Zusammentreffen beschlossen, dass alle bisherigen Leseanstrengungen methodisch hinfällig sind und auf ein Neues hingelesen werden muss.
In nationalistischeren Zeiten wurde nach der Nationalität des Autors gefragt, in sozialistischen nach seinem Sozialismus, in existentialistischen galt es seine Existenz zu rechtfertigen und in der jetzigen Genderzeit der Wissenschaft sein Geschlecht. Schreckliche Texte über den verbo(r)genen Phallus bei Heinrich von Kleist oder die ver(k)leidete Libido bei Ingeborg Bachmann sind so entstanden. Weitere sind im Entstehen begriffen. Da der akademische Leser etwas in die Bücher hineinliest, was gar nicht drin steht, kann seinem Tun auch kein Einhalt geboten werden, denn ein tatsächlicher Schaden entsteht dem Autor dadurch nicht – sein postumer Erstickungstod an all dem fremd Erbrochenen wiederum ist nicht justiziabel.
Der rhythmische Wechsel der Fragestellungen entspricht selbstredend weniger der Neugier der akademischen Leser als vielmehr dem Bedürfnis nach einer hermeneutischen Arbeitsplatzgarantie. Es handelt sich hier um hoch subventionierte universitäre Täuschungsmanöver, denn der wissenschaftliche Ertrag wird nur von denen behauptet, die daraus ihren Nutzen ziehen. Allen anderen ist ihr Tun unverständlich, wenn nicht gar unheimlich.
Der altkluge Leser in seiner Reingestalt als altkluger Leser nennt sich Kultleser. Kult wird ein Autor dann, wenn er durch seine Lebensführung ein schlechtes Vorbild gibt, oder durch seinen Schreibstil ein eigenwilliges, beides möglichst in Verschränkung. Kultleser wird ein Leser dann, wenn sein eigenes Leben ein zu gewöhnliches und sein eigener Stil ein unerkennbarer ist, so dass er sich auf Lebenszeit mit einer anderen Existenz verschränken muss.
Der Einsiedler Marke ›Salinger‹ oder ›Pynchon‹ bzw. der extrovertierte Typus nach Art ›Hemingways‹ oder ›Bukowskis‹ bzw. der feinsinnige nach Strickart ›Rilkes‹ oder ›Kafkas‹ sind archetypische Kultautoren, die ihrerseits wieder Dutzende Stimmenimitatoren unter den Autoren geprägt haben, so dass die Auswahl für den Leser eine viel größere ist, als es das Bedürfnis des Kultischen eigentlich zulässt: die Folgewirkung der seriellen Schädigung der genialen Einzelexistenz, die kafkaesk zu nennen naheliegt, bleibt weitgehend unbedacht, weil ungewollt.
Denn der Kultleser verachtet alle anderen Autoren, insgeheim oder explizit, hält sich aber die Option zum Wechsel offen, weil der Alterungsprozess den Leseprozess modifiziert, so dass sich der einstige ›Fänger im Roggen‹ in späteren Jahren als Humbert Humbert auf die Lauer nach ›Lolita‹ legt – was zwangsläufig Nabokov zum Kultautor adelt.
Der altkluge Leser in pensionierter Gestalt ist der altmodische Leser, an sich eine sehr liebenswerte Erscheinung, sofern er nicht über seine Lektüreerlebnisse redet – denn dann stellt sich unweigerlich ein pantoffelwarmes Gefühl der Behaglichkeit ein.
Er selbst würde es Gleichmut nennen, erwachsen aus einem reichen Schatz schwer verzinsbarer Lebenserfahrungen, oder Desinvolture, zu verstehen als buddhistische Gelassenheit angesichts einer durch den Weisen unbelehrbaren Mitwelt, tatsächlich ist es wohl die Langeweile des intellektuellen Rentiers. Das Atemholen bis zum Gedanken wird als Beweis der noch immer tüchtigen Konstitution begriffen, was den Gedanken selbst überflüssig werden lässt, zudem – was wurde nicht schon alles gedacht?!
Der altmodische Leser fällt keine Geschmacksurteile mehr, da ist er zu sehr Souverän des Urteilens, und dass die Moderne als Gesamte sexuell abartig und stilistisch verwahrlost ist, da mag und muss er nicht mehr klagen. Unordnung und frühes Leid hatte er genug in seinem Leben.
Der altmodische Leser liest für sein Leben gern Thomas Mann, aus vielen Gründen, die alle so naheliegend sind, dass er sich nicht die Mühe des Aufzählens machen würde. Ein Bürgerlicher im besten Sinn, wie er selbst, protestantischer Leistungsethiker, Vielarbeitender, Wohlverdienender, in Maßen Genießender, und ein Autor, der seinen Leser nicht allein lässt, dank seines Fleißes, so wie er selbst seinen Nachkommen einen schönen Vermögensgrundstock geschaffen hat, auch wenn sie es ihm nicht danken.
Er hingegen ist ein dankbarer Leser, nicht zuletzt weil Thomas Mann so beharrlich vor Augen führt, dass Literatur und Leben zweierlei sind, und die im wirklichen Leben die Tüchtigen und die in der Kunst eigentlich die Untüchtigen, deswegen schreiben sie ja so viel, was letztlich nichts anderes ist als Ausdruck der Klage über die eigene Lebensuntüchtigkeit. Insofern hält er Thomas Mann unter allen Autoren für den männlichsten, Goethe vielleicht ausgenommen, aber der trank zu viel und war auch sonst ein wenig liederlich.
Nicht selten krönt der altmodische Leser sein Lebenswerk als Leser mit einem kleinen Büchlein über Thomas Mann und J. S. Bach, so in etwa, oder die Singgewohnheiten im Haus Thomas Mann, um seiner Freundschaft mit der Familie auch einmal schriftlich Ausdruck zu geben, in aller Bescheidenheit. Die Kosten der Publikation trägt er gern selbst.
Der altkluge Leser in seiner dümmsten Gestalt ist der Verschwörungstheoretiker, vice versa, der altkluge Autor in seiner dümmsten Gestalt ist der Verschwörungstheoretiker. In keiner anderen Konfiguration sind sich Autor und Leser so nah, können sie so leicht ihre Rollen tauschen, denn eine Verschwörung zu erkennen heißt sie zu formulieren, dazu braucht es nur Talent, und Mut, Mut sich abseits zu stellen.
Jede Schrift, jedes Buch ist ein trojanisches Pferd, aber die Truppen, die ihm entfliehen, haben nicht immer die Befreiung Helenas im Sinn, dass hieße, sich an den Wortsinn des Textes klammern. Im Grunde nämlich diente die trojanische Verschwörung keineswegs diesem sehr handgreiflichen Zweck, alles Augenwischerei jener Exegeten die Homer als Historiografen nicht als Seher gelesen haben, sondern einem ganz anderen, wie in der Space Opera Ilium von Dan Simmons nachzulesen ist, dem einzig rechtmäßigen Erben Schliemanns. Nur so viel sei verraten: Der wahre Schatz Trojas ist noch gar nicht geborgen!
Der Seelenverwandte des verschwörungstheoretischen Lesers ist der abergläubische Leser, Zwillinge im Geiste, wobei der eine mehr aufs große Ganze zielt, der andere aufs persönliche Wohlergehen, was Hand in Hand gehen kann und den einschlägigen Autoren ein erhebliches Einkommen sichert – so sie nicht wie Nostradamus die Buchrechte zu billig abgegeben haben.
Der altkluge, verschwörungstheoretische Leser in seiner diktatorischen Gestalt ist der Diktator. Über die Lesegewohnheiten der Diktatoren im Allgemeinen ist wenig Genaues zu erfahren, über die Adolf Hitlers schon. Hitlers Bibliothek umfasste 16300 Bände. Zwei Drittel davon waren Geschenke von willfährigen Autoren und servilen Anhängern. Seine Bibliothek im eigentlichen Sinn zählte also mehr als 5000 Bände, verteilt auf drei Haushalte. Das ist mehr als seine Kritiker vermutet hätten. Seine Lesegewohnheiten waren exzessiv, er las ganze Nächte durch, markierte, exzerpierte, unterstrich. Wie zu erwarten, las er, was seinem Naturell entsprach: Antisemitisches, Rassekundliches, Okkultes, Militaria – aber auch anderes. »Don Quichotte zählte für ihn zusammen mit Robinson Crusoe, Onkel Toms Hütte und Gullivers Reisen zu den größten Werken der Weltliteratur« berichtet sein Lesebiograph Timothy W. Ryback. Er besaß eine ledergebundene Ausgabe der Werke Shakespeares und schätzte ihn, nicht zuletzt dank des Kaufmanns von Venedig, wesentlich höher als Goethe oder Schiller. Er kannte sich aus in der Heiligen Schrift, liebte Karl May, und war, wie die folgende Selbsteinschätzung bezeugt, keineswegs ein unreflektierter Leser: »Ich kenne Menschen, die unendlich viel ›lesen‹, und zwar Buch für Buch, Buchstaben für Buchstaben, und die ich doch nicht als ›belesen‹ bezeichnen würde. Sie besitzen freilich eine Unmenge von ›Wissen‹, allein ihr Gehirn versteht nicht, eine Einteilung und Registratur dieses in sich aufgenommenen Materials durchzuführen. Es fehlt ihnen die Kunst, im Buch das für sie Wertvolle vom Wertlosen zu sondern, das eine dann im Kopfe zu behalten für immer, das andere wenn möglich, gar nicht zu sehen.«
Die Moral von der Geschichte? Hitler war ein böser Mensch, aber ein guter Leser. Und als Autor? Hat er versagt, da sind sich seine Gegner einig. »Mein Kampf« ist der seltene Fall eines Buches, bei dem alle Literaturkritiker dahingehend übereinstimmen, dass die Verkaufszahlen nichts über den Rang des Buches aussagen. Es ist ein schlechtes Buch, so der naive Tenor. Dennoch war Hitler als Diktator, nach diktatorischen Maßstäben gemessen, sehr erfolgreich. Woraus folgt: der Wirkungsgrad eines Buches ist nicht an seine literarische Qualität gekoppelt, zum einen, und zum anderen: Der altkluge Leser ist als Autor zuweilen todernst zu nehmen.
VII. Der Nichtleser
Ein Buch, richtig gelesen, genügt fürs Leben. Da sind sich Theologen, Philosophen, Literatur- und Geisteswissenschaftler einig. Mehr ist zu viel, denn es gilt nicht immer mehr Worte zu finden, für das, was wir schon wissen, sondern mehr zu tun, in der kurzen Zeit, die uns zum Leben gegeben ist. Doch, doch, so viel Pathos darf sein, beharrt der Nichtleser. Lesen heißt, eingestehen dass man etwas versäumt, versäumen will, weil der Mut fehlt, es zu erleben!
Lesen mache glücklich, heißt es immer. Unsinn! Das Gegenteil ist der Fall. Zitiert sei Kronzeuge Franz Kafka, belauscht in einem Gespräch mit Gustav Janouch: »Ich glaube, dass ich ohne Bücher nicht existieren könnte. Für mich sind sie die Welt.« Franz Kafka zog bei diesen Worten seines Begleiters die Augenbrauen zusammen. »Das ist ein Irrtum. Das Buch kann die Welt nicht ersetzen. Das ist unmöglich. Im Leben hat alles seinen Sinn und seine Aufgabe, die von etwas anderem restlos erfüllt werden kann. Man kann – zum Beispiel – sein Erleben nicht mittels eines Ersatzmannes bewältigen. So ist es auch mit der Welt und dem Buch. Man versucht das Leben in Bücher wie Singvögel in Käfige einzusperren. Doch das gelingt nicht.« Und so werden alle Beteiligten zu Opfern: Der Leser leidet, auch wenn ihm das vielleicht nicht bewusst ist, da er sein Tun als ein lustvolles empfindet. Aber es ist die niedere Lust, dessen, der sich davonstiehlt: Ich-Flucht gepaart mit dem rabiaten Instinkt des Vertilgens, das ist Lesen. Bücher verschlingen, was ist das anderes als intellektuell sich gebender Kannibalismus?!
Der Autor leidet, an sich und an seinen Werken. Denn – er ist ein Magier ohne Gewissen. Was nämlich gern vergessen wird – auch seine Figuren leiden. Er lässt sie leiden. Er, der Schöpfer ohne Schöpfungskraft, setzt sie in die Welt, ohne ihnen wirklich Leben einhauchen zu können. Lemuren sind sie, Schattenwesen, Figuren, die existieren, ohne je wirklich ins Leben eintreten zu können, geschweige denn, wieder ins Vergessen verschwinden zu dürfen.
Der Nichtleser schüttelt ehrlich bekümmert den Kopf. Und da begreift der Zuhörer plötzlich, was den Nichtleser auszeichnet: Sein Mitgefühl. Sein gutes Herz, das er sich nicht ramponieren lassen möchte von den Autoren, diesen Taschendieben der Herzen! So gesehen ist der Nichtleser der liebenswerteste unter allen Lesern – denn ihn gilt es zu verführen.
Mehr dazu in: Der ewige Zweite. Eine Kleine Typologie des Lesers. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2010
M wie Märchen
N wie Nachrufe
In fünf einfachen Schritten zur Unsterblichkeit
Meine Damen und Herren,
Wir werden sterben. Jeder von uns hier wird sterben. Entschuldigen Sie diesen etwas übellaunigen Auftakt. Aber das ist eine der wenigen Gewissheiten, die uns geblieben ist. Wenn Sie nun glauben, diese unfrohe Äußerung sei nicht zu übertrumpfen, doch, das ist sie … Denn wir sterben nicht nur diesen einen Tod, wir sterben einen zweiten Tod. Einen dritten, einen vierten … Wann immer uns ein Mensch vergisst, sterben wir einen neuen Tod, bis zu dem Tag, da nichts mehr von uns geblieben ist, nicht einmal die Erinnerung einer Erinnerung. Wie fern oder wie nah dieser Tag ist, entscheiden Sie selbst.
Meine Frage heute – hier und an Sie direkt: Wie leidenschaftlich wollen Sie diesen Kampf gegen das Vergessen führen?
Ich schreibe Nachrufe. Kurzatmige Biographen, wenn Sie so wollen, Porträtmalerei mit nur einem Pinselstrich. Nachrufschreiben ist ein hoffnungsloses Tun. Sisyphos war ein Gewinner dagegen. In Deutschland sterben Jahr für Jahr etwa 900 000 Menschen, in Berlin etwa 30 000. Drei Menschen sind es, die wir im „Tagesspiegel“, der Hauptstadtzeitung, jeden Freitag porträtieren – Aufnahmebedingung ist: Es darf kein Prominenter sein. Gewöhnliche Menschen – wie finden wir die? Verwandte machen uns auf die Verstorbenen aufmerksam. Freunde melden sich. Zuweilen springt uns selbst eine Todesanzeige ins Auge: So früh gestorben – so lange gelebt. Was für ein schöner Sinnspruch, welch rührender Vers. Meist jedoch sind es nur Floskeln, Gestanztes aus dem Handbuch der Bestattungsunternehmer: „Wir werden Ihn/Sie immer vermissen …“
Wir retten auf unserer Nachrufseite einhundertfünfzig Menschen im Jahr vor dem Vergessen. Natürlich sollten wir Tausende retten, Hunderttausende. Die Frage ist - sollten wir es wirklich? Wann ersticken wir an unseren Erinnerungen? Selbst wenn ein Nachruf nur eine Seite umfassen würde - hätten Sie je die Zeit, 900 000 Biographien zu lesen, und das sind nur die Lebensgeschichten eines Jahrgangs. Und glauben Sie mir, jede dieser Geschichten wäre auf gewisse Weise bedenkenswert. Das Leben jedes Menschen ist bedenkenswert.
Es kommt der Jahrgang, da wird Ihre Geschichte eine dieser Geschichten von vielen sein. Die Frage ist – soll sie erzählt werden? Und wenn ja, von wem?
Der Tod ist ein unbezwingbarer Gegner. Aber wir Menschen sind nur deshalb über uns hinausgewachsen, weil wir diesen Kampf angenommen haben. Der Neandertaler, einer unserer frühen Vorfahren, für die wir uns meist schämen, weil sie so ungehobelt im Auftreten waren, der Neandertaler, so habe ich neulich in dem Vortrag eines bedeutenden Archäologen erfahren, bestattete seine Angehörigen. Er hätte es sich einfacher machen können. Mit dem Faustkeil war es sicher keine Freude, Gräber auszuheben. Aber er hat es getan. Da ist er manchem Großstädter weit voraus, gedanklich.
Wenn wir Menschen nicht einfach nur dem Vergessen zum Fraß vorwerfen, sondern sie bestatten, dann denken wir an sie. Wenn wir an sie denken, leben sie weiter. Die Frage ist nur, in welcher Gestalt.
Je pompöser die Grabstätte, desto schöner, inniger, herzlicher das Erinnern? Das Pharaonen-Paradox. Sie können die Pyramide noch so groß bauen, der Mensch wird nicht lebendiger dadurch. Im Gegenteil, er wird erdrückt durch die Last des ihm Auferlegten. Wir wissen alle, dass gelogen wird, wenn es darum geht, Abschied zu nehmen. Viele Menschen wollen nicht, dass ihnen eine Pyramide errichtet wird. Genau aus diesem Grund. Sie wollen ein anonymes Grab.
Viele sind zu bescheiden, viele halten ihr Leben für – nein, nicht für nicht lebenswert – für nicht erzählenswert. „Ich hab doch nichts erlebt!“ Tut mir leid, dieser Satz ist immer gelogen. Sie haben sehr viel erlebt – Sie wollen nur nicht darüber reden. Sie wollen es nicht in Wort fassen. Sie wollen es nicht in Worte fassen, die anderen die Chance geben, nacherleben zu können, was Sie so wunderbar am Leben fanden. Die Folge: Es gerät so viel in Vergessenheit. Das ist schlimmer als der Tod.
Ich persönlich hasse das Vergessen. Ich hasse diese Erinnerungskultur, die nur den Siegern und den Verbrechern Denkmäler errichtet. Jede neue Hitlerbiographie kotzt mich an. Das Paktieren der Historiker mit den Wichtigtuern … Wir dürfen nicht denen das Erinnern überlassen, die es nicht verdienen. Es ist sehr einfach, ein schlechter Mensch zu sein. Es ist sehr schwer, anständig durchs Leben zu gehen. Weil aufrechtes Gehen das Rückgrat strapaziert. Schon deshalb hat jeder dieser Helden des Alltags ein wenig Unsterblichkeit verdient. Und dazu zähle ich uns alle.
Worüber ich hier sprechen will, ist, wie es ihnen gelingen könnte … das mit der Unsterblichkeit, meine ich. Sie erinnern sich vielleicht an Herostratos, ein Hirte, dem wenig mehr blieb, um auf sich aufmerksam zu machen, als ein Feuerzeug. Damit setzte er den Tempel von Ephesos in Brand. Unter Folterqualen gestand er, dass ihn die Sucht nach Ruhm getrieben habe. „Pfui“ werden die meisten denken, und an der nächsten Ecke ein Selfie von sich und der nächstbesten Berühmtheit schießen, die ihnen über den Weg läuft. Wir zündeln alle für ein wenig Ruhm. Es brennt in uns. Was soll bleiben … ein Selfie oder ein Selbstbild, Sie haben es in der Hand. Was können Sie tun, damit ihre Geschichte nicht eine von vielen ist. Eine, die vergessen wird, kaum dass Sie die Augen geschlossen haben. Einfache Antwort: Schreiben Sie Ihren Nachruf! Sagen Sie mir bitte nicht, Sie haben keine Zeit. Nie gab es eine Epoche in der Menschheitsgeschichte, in der die Menschen in Mitteleuropa mehr Zeit hatten, über ihr Leben nachzudenken als die unsere. Sie haben die Zeit. Die Frage ist nur, wie lange noch. Das Titanic-Dilemma: Wir leben an Bord des luxuriösesten Kreuzfahrtschiffes aller Zeiten. Wir sind unsinkbar und nehmen doch schon Kurs auf den Eisberg, der unser Untergang sein wird. Zimmern Sie ihr Rettungsboot! Bestücken Sie die Flaschenpost! Machen wir uns an die Arbeit: In fünf kleinen Schritten zur Unsterblichkeit!
Der gesamte Vortrag: https://www.magentacloud.de/lnk/7psy4yde
S wie Scharlatane
U wie Unsterblichkeit
W wie Witz